Luther, der Evangelist

Luther als Evangelist Matthäus

Die Luther-Sanktifizierung fand ihren Niederschlag nicht nur in Bildnissen des Reformators mit Heiligenschein. Weit verbreitet waren Rollenporträts Luthers, die ihn zum Beispiel als Evangelisten, Kirchenvater oder Glaubenshelden zeigen. Bei diesen Darstellungen fehlt häufig die Gloriole, offensives Kennzeichen der Heiligkeit. Hatte am Beginn die reformatorische Bewegung ihren Protagonisten provokativ zum nimbierten Heiligen stilisiert (Kat. Nr. 10), so wurde man sich bald der ambivalenten Bildbotschaft bewusst, erschien doch den Protestanten der Umgang mit tradierten Heiligen, ihren Bildern und Bildwerken sowie die Verehrungspraxis als zunehmend problematisch. Luther war seinen Anhängern kein Heiliger im Sinne der Papstkirche, wurde von ihnen aber wegen seiner revolutionierenden Ansichten und Initiativen hochgeschätzt, wenn nicht verehrt. Diese Wertschätzung spiegelte sich nicht zuletzt in einer Bildsprache, die bekannte Bildformeln aufgriff und Luther als Teil des göttlichen Heilsplans inszenierte. Das Rollenporträt bot die Möglichkeit, den Reformator in die Nähe von Heiligen zu rücken, ohne jedoch auf deren spezifische Attribute zurückzugreifen.

Ab Mitte Dezember 1521 übersetzte Martin Luther auf der Wartburg das Neue Testament aus dem Urtext unter Berücksichtigung der Vulgata. Bereits im September 1522 erscheint seine Übersetzung im Druck (Septembertestament), rasch folgen verbesserte Nachdrucke an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Bildausstattung. Aus diesem Kontext stammt auch eines der ersten Rollenporträts Luthers: der Holzschnitt „Luther als Evangelist“ von Hans Sebald Beham (1500–1550) (Abb. 1), der 1524 in Nürnberg von Hans Hergot († 1527) gedruckten Oktavausgabe von Das new Testament Deütsch vorangestellt. Luther selbst war von den Erzeugnissen Hans Hergots, des „Hergetleins“, wie er ihn nannte, wenig angetan, denn es handelte sich um Raubdrucke. Am Dienstag nach Matthäi im Jahr 1525 greift er zur Feder und beschwert sich beim Bürgermeister und Rat der Stadt Nürnberg über die unautorisierten Nachdrucke Hergots.

Abb. 1
Abb. 1 Hans Sebald Beham: Luther als Evangelist (Holzschnitt). Wartburg-Stiftung Eisenach: G2450
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Luther äußert sich nicht zu seiner Darstellung als vom heiligen Geist inspirierten und göttlich erleuchteten Schreiber, die ihn, wie Hieronymus als Übersetzer der Vulgata, in die Tradition der Kirchenväter stellt. Als Titelholzschnitt des Drucks rekurriert die Darstellung zugleich auf Evangelistenbildnisse, die sich ebenfalls am Beginn der jeweiligen Evangelien befinden. So originell die Bilderfindung Behams erscheint – formal war sie es nicht. Für die Gestaltung dienten Beham verschiedene Vorlagen bereits bekannter Lutherbildnisse. Die Gesichtszüge orientieren sich an Cranachs Kupferstich „Martin Luther mit Doktorhut“ (Kat. Nr. 10, Abb. 3), die Gloriole sowie die frontal sich niedersenkende Geisttaube an einer Darstellung von Hans Baldung Grien (Kat. Nr. 10). Auch die Bildkomposition – die Pose des auf einer gepolsterten Bank sitzenden Gelehrten am Pult – ist keine Neuschöpfung. Als Vorlage kommt ein Holzschnitt von Ambrosius Holbein (1494–1519) zur satirischen Geuchmatt-Dichtung (1519) von Thomas Murner (1475–1537) in Frage (Abb. 2). Dort ist Murner, pikanterweise ein Gegner Luthers, als Kanzler der Gäuche (Narren) abgebildet. Beham schuf mit seinem Holzschnitt eine Bildkompilation mit der bemerkenswerten neuen Rollenzuweisung Luthers als Evangelist – eine Rolle, die Schule machen sollte, nicht zuletzt weil sie Luther als Werkzeug des Heilsplans vorführte.

Abb. 2
Abb. 2 Ambrosius Holbein: Thomas Murner als Kanzler der Gäuche (Holzschnitt), in: Thomas Murner: Die Geuchmat zu straff allen wybschen mannen, Basel: Petri, 1519, Bl. Biiij r. Bayerische Staatsbibliothek München: Rar. 1791
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1530 schuf Lucas Cranach d. Ä. (um 1472–1553) Holzschnitte für eine weitere Ausgabe des Neuen Testaments. Dem Matthäusevangelium vorangestellt ist ein Bildnis des würdevoll gealterten Luthers in der Rolle des schreibenden und göttlich inspirierten Evangelisten (Exponat Nr. 11). Ähnlich wie Erasmus auf Gelehrtenporträts sitzt Luther in einem komfortabel eingerichteten Wohnraum, der durch eine Fensteröffnung den Blick in eine hügelige Landschaft freigibt – eine Reminiszenz an den Aufenthalt auf der Wartburg. Luther ist nicht mehr der asketische Mönch Baldung Griens, sondern in bürgerlicher Behäbigkeit angekommen. Die Zeit unmittelbarer Machtkämpfe scheint bewältigt, der Reformator kann sich seiner Arbeit an der Bibelübersetzung hingeben. Dementsprechend ist der Bildraum gefüllt von Symbolen göttlicher Inspirationskraft. Eine überproportionierte Geisttaube verstrahlt ihr Licht auf den Schreiber, ein Engel – Evangelistensymbol des Matthäus – fängt dieses Licht mit einem Spiegel ein, bündelt es und lässt so die heiligen Worte des Evangelisten in Luthers Feder fließen. Würde der Schreiber von seiner Arbeit aufblicken, er sähe sich in dem Spiegel zusammen mit einem Tischkreuz, auf dem die Linke des Engels ruht. Auf das engste ist das Wirken Luthers mit dem Kreuz, dem Zeichen von Passion und Erlösung, verbunden. Auf subtile Weise durchdringen sich Gegenwart und göttlicher Heilsplan: Luther ist dem Evangelisten angeglichen; umgekehrt gleicht sich aber auch das Evangelium seinem Schreiber an.

Jahrelang arbeitete Luther an der deutschen Übersetzung der biblischen Bücher. Keine der zuvor bekannten deutschen Bibelübersetzungen hatte eine vergleichbare Durchschlagskraft. Das war nicht nur der Persönlichkeit Luthers, seinem kompromisslosen Auftreten und seiner Integrität geschuldet, sondern auch einer gezielten Bildpropaganda. Die Darstellungen Luthers als Evangelist nutzen traditionelle Bildmuster und vermitteln die Autorität der Heiligen Schrift, einer Schrift, die, von Luther aufbereitet, nunmehr jedem, der lesen kann, in der Volkssprache zugänglich ist:

Aber die biblia […] ist so gutt vnd köstlich, das sie besser ist als alle versiones Greckisch vnd Lateinisch, vnd man findt mehr drinnen als in allen commentariis, den wir thun die stöck und plöck aus dem weg, das ander leutt ohne hindernus drinnen lesen mögen (WA TR 5, 5324, S. 58f.).

Gia Toussaint

Literatur:

Gemeinhardt 2014; Heal 2014; Holsing 2004; Kat. Eisenach 1996; Kat. Hamburg 1983b; Kat. Wartburg 2015; Reinitzer 1983; Schuster 1983; Scribner 1994; van de Waal 1964; van Gülpen 2002; Zschelletzschky 1975.