Marginalien, Memoria und Meilenstein(e)

De Gratiosa Incarnatione Dei

Nach seiner Promotion an der Universität Wittenberg hielt Martin Luther dort von 1513 bis 1515 Vorlesungen zur Bibelexegese. Die Übersetzung des Psalters wurde als erster seiner Texte in der Offizin von Johannes Rhau-Grunenberg († vor 1525) gedruckt (siehe auch Reske 2015, S. 53–64) und ist nur in diesem einen Exemplar bekannt. Angereichert mit seinen handschriftlichen Einträgen, wandelte sich der im Druckverfahren normierte Text zum individuellen Objekt. Luthers Marginalien geben Einblick in seine Ideen und Gedanken bei der Lektüre des Psalters und der Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen. Zwischen den Zeilen trug er Glossen zur Bedeutung von Begriffen ein. Charakteristika und Interpretationen der Psalmen sind am umlaufenden Rand notiert. Auf einen längeren Arbeitsprozess deuten Wechsel der Tinten, Durchstreichungen und Korrekturen hin. Die spätere Benutzungsgeschichte des Unterrichtswerks dokumentieren Einträge und eingefügte Bilder. Luther schenkte das Buch seinem langjährigen Freund und wohl auch Wittenberger Studenten Jacob Probst (1486/90–1562).

Abb. 1
Abb. 1 Luther als Augustiner-Eremit, Holzschnitt nach einer Vorlage Lucas Cranachs d. Ä., süddeutsch, nach 1520, in: Martin Luther: Sepher Thehillim, Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg 1513, Bl. 6 r. HAB: 71.4 Theol. 4°

Dieser war der erste protestantische Prediger an der Kirche Unserer Lieben Frau in Bremen und dort seit 1534 Superintendent. Um 1560 gab Probst Luthers persönliches Exemplar an den Bremer Bürger Hans von Hildesheim weiter, der den Theologen Tilemann Hesshus (1527–1588) um Ergänzung des zu Beginn fragmentarischen Textes bat. Eilard Segebade († 1602), Pastor an St. Ansgarii in Bremen und später Hofprediger Herzog Wilhelms d. J. von Braunschweig-Lüneburg (1535–1592), hinterließ darin Informationen zur bisherigen Besitzgeschichte (Bl. 2 r–3 v).

Vermutlich ebenfalls in Bremen wurde das Buch mit Bildern angereichert. Eingeklebt und handschriftlich als „Autor“ bezeichnet ist das Porträt Luthers als Augustiner-Eremit (Abb. 1) (Kat. Nr. 30–32).

Auf dieses Motiv reagiert eine Zeichnung mit seinem idealisierten Abbild (Abb. 2). Ein Medaillon-Holzschnitt inszeniert ihn als gelehrten Theologen mit Doktorhut und Talar (Bl. 5 v, auch in Drucken von Georg Rhau überliefert).

Abb. 2
Abb. 2 Luther als Augustiner-Eremit, Federzeichnung von unbekannter Hand nach dem Holzschnitt auf Bl. 6 r, in: Martin Luther: Sepher Thehillim, Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg 1513, Bl. 113 v. HAB: 71.4 Theol. 4°

Als Pendant fungiert eine Darstellung Philipp Melanchthons (Bl. 115 v), dessen Lutherbiographie den Nachruhm des Reformators förderte (Weihnacht 2008). Jacob Probst ist in einer kolorierten Federzeichnung präsent (Abb. 3).

Eine zweite, nahezu identische Bleistiftzeichnung findet sich in einer zwölfbändigen Manuskriptsammlung zur Bremer Geschichte aus dem Besitz des Theologen Johann Melchior Kohlmann (1795–1864) (Abb. 4).

Martin Luthers Arbeitsexemplar hatte sich von einem durch die häufige Berührung des Reformators ideell aufgeladenen persönlichen Objekt zu einem wertgeschätzten mobilen und flexiblen Medium des Sammelns und der Luthermemoria gewandelt. Dieses erwarb Herzog August d. J. (1579–1666) um 1640 aus unbekanntem Vorbesitz für die Wolfenbütteler Bibliothek (Luther 1983, S. XXXI). Nachdem der Psalter schon lange als einer der „Schätze“ der Herzoglichen Bibliothek gehütet und gezeigt worden war (Voges 1913, S. 724), erschien im Luther-Jahr 1983 eine Faksimile-Ausgabe (Luther 1983).

Abb. 3
Abb. 3 Porträt des Jacob Probst, kolorierte Federzeichnung von unbekannter Hand, Mitte 16. Jahrhundert, in: Martin Luther: Sepher Thehillim, Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg 1513, Bl. 7 r. HAB: 71.4 Theol. 4°

Die handschriftlichen Eintragungen im Wolfenbütteler Psalter korrespondieren mit der Dresdener Scholien-Handschrift (Mscr.Dresd.A.138) und bieten wie diese vielfältiges Material zur Rekonstruktion von Luthers Vorlesungen zum Psalter. Beide Lutherautographen gehören zu den 14 Dokumenten, die ein im Auftrag der Deutschen UNESCO-Kommission von Irene Dingel und Henning P. Jürgens am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte verfasstes Dossier zur historischen Wirkung Martin Luthers vorstellt. Dem minutiös vorbereiteten Auswahlverfahren des Textkorpus war 2012 eine interdisziplinäre Fachtagung zur Lutherforschung vorangegangen (Dingel/Jürgens 2014), während der die anschließend vorgeschlagenen Objekte von internationalen Luther-Spezialisten in ihrer Einzigartigkeit als „Meilensteine der Reformation“ eingeordnet wurden. Im März 2014 erreichte die UNESCO ein entsprechendes Dossier, im Oktober 2015 fiel, sicherlich auch im Hinblick auf das 500-jährige Jubiläum der Reformation, die Entscheidung zur Aufnahme der 14 Schriften aus Luthers Frühwerk in das UNESCO-Weltregister des Dokumentenerbes „Memory of the world“. Jetzt zählt Luthers Handexemplar zur Auswahl besonders wertvoll erachteter Bücher, Partituren, Bild‑, Ton- und Filmdokumente „in einem weltumspannenden digitalen Netzwerk“, so die Deutsche UNESCO-Kommission.

Britta-Juliane Kruse

Literatur:

Gutjahr 2008Härtel 1999Katte 1996Laube 2007Laube 2011Luther 1983Matsuura 2014Spehr 2014Treu 2008Weihnacht 2008.

Abb. 4
Abb. 4 Porträt des Jacob Probst, Bleistiftzeichnung von unbekannter Hand, Mitte 16. Jahrhundert, im Nachlass von Johann Melchior Kohlmann. Staatsarchiv Bremen: 7,43-27