Der betende Luther

Der andächtig betende Lutherus

Die Bildpolitik, mit deren Hilfe Luther nach seinem Tod 1546 bis weit ins 19. Jahrhundert zum Heiligen stilisiert wurde, bediente sich maßgeblich druckgraphischer Verfahren. Holzschnitte und Kupferstiche mit dem Porträt oder der Ganzkörperfigur Luthers wurden gern als Frontispiz für Druckwerke verwendet. Der hier gezeigte Band eines Gebetbuchs aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der auf Luthers Betbüchlein zurückgeht, ist durch den Einband in rotem Ziegenleder mit Liniengold und Goldschnitt ein gleichermaßen hochwertiges wie kostspieliges Exemplar (Abb. 1) mit einem ausklappbaren Kupferstich. Gebetbücher gehörten zu den beliebtesten Lektüren der Frühen Neuzeit (Bepler 2001, S. 291) und wurden entsprechend des Standes der Besitzerinnen und Besitzer gebunden und ausgestattet.

Zwei Drittel des entfaltbaren Frontispizes zeigen, wie sich in einem durch Buchbestand als Arbeitszimmer gekennzeichneten Raum der kniende Luther den göttlichen Lichtstrahlen entgegenreckt, die aufgeschlagene Bibel vor ihm auf einem Tisch. Darunter und in den oberen Bildteil hineinragend befindet sich in der Bildmitte eine mit Girlanden und der Lutherrose (siehe den Beitrag von Klaus Conermann) verzierte Muschel mit dem Kurztitel des Buches. Flankierend an beiden Außenseiten wurde eine mit Jahreszahlen versehene tabellarische Biographie Luthers hinzugefügt.

Abb. 1
Abb. 1 Johann Christoph Reuchel (Hrsg.): Der andächtig-betende Lutherus/ Oder: Geistreiches Gebet-Buch, Chemnitz: Stößel 1738, Einband. HAB: M: Li 5290

Ins Bild gesetzt ist hier die Botschaft eines mit Enthusiasmus betenden Luther, der sich dem göttlichen Licht, symbolisiert als Sonne mit dem Dreieck der göttlichen Trinität, öffnet. Das Licht als Symbol der aus Gott hervorgehenden Wahrheit (Kreuzer 2008, S. 207) wird hier als Effekt des hingebungsvollen Gebets vorgeführt. In pädagogischer Absicht soll für den Betrachter ein innerer Vorstellungsraum entstehen, in dem Luther zum Vorbild für jeden Betenden wird (Mager 1998, S. 43). Die affektfreudige Inszenierung fügt sich in die Bildsprache des beginnenden 18. Jahrhunderts. Luthers wilde Haarpracht, das lebhaft wirkende Gesicht in der Profilansicht, seine geöffneten Hände mit den hilfesuchend ausgestreckten Armen und die demütige Körperhaltung unterstützen die Emotionalität in der Darstellung.

Das Vorwort des Herausgebers plädiert für kurze, andächtig vorgebrachte Gebete mit Verve und Feuer: Es sollten „Seuffzer und Stoß-Gebetlein“ sein. Luther selbst habe stets mit Inbrunst zu Gott gebetet, sogar einmal im Sommer 1532 in großer Dürre und Hitze um gnädigen Regen, der dann auch in der Nacht darauf am 9. Juli niedergegangen sei (Reuchel 1738, Vorwort). Frontispiz, Vorwort und Gebetstexte verbinden sich zu einem Appell für eine konzentrierte, aus der subjektiven Innenschau gesteuerte Gebetshaltung.

Diese vom Zschopauer Pfarrer Johann Christoph Reuchel (1667–1725) herausgegebene Gebetsammlung ist einer der vielen Belege für die von lutherischen Geistlichen nach Luthers Tod fortgesetzte Tradition, dessen Betbüchlein (1522) zu erweitern und umzuschreiben (Beyer 2007, S. 31 f.) (Kat. Nr. 18). Reuchel integrierte Texte aus dem überaus erfolgreichen Betbüchlein von Johann Habermann (1516–1590), das erstmalig 1567 erschienen war. Damit folgt er einer auch im Feld der Gebetsliteratur gängigen Praxis des Kompilierens von bereits bekannten Texten. Der hier gezeigte Druck, die zweite Auflage des erstmals 1703 gedruckten Werkes (Reuchel 1703), umfasst 350 Textseiten, an die sich ein 18-seitiges Register anschließt. Nach dem Vorwort und einer 12-seitigen Lebensbeschreibung Luthers folgt ein umfangreicher Gebetsteil. Die Gebete sind in Sektionen eingeteilt (Vorbereitungsgebete, Morgen- und Abendgebete, Gebet über die Zehn Gebote, Gebete über das Vaterunser, Gebete vor und nach der Predigt, Kirchengebete, Festgebete, Gebete vor der Beichte, Gebete vor dem Abendmahl, Gebete in Not und Kreuz, für alle Menschen, im geistlichen Stande, im weltlichen Stande, im häuslichen Stande), aber benutzbar ist das Handbuch für die Betenden eigentlich nur über das Register. Schlagwörter verweisen auf Gebetstexte für unterschiedliche Anlässe. Neben Gebeten der täglichen Routine des Morgen- und Abendgebetes lassen sich von Bitten eines Junggesellen um eine ehrliche Ehefrau und vice versa bis zum Gebet eines Soldaten vor der Schlacht eine Vielzahl von Gebeten für Gefühlszustände wie Angst und Not finden. Ebenso fehlen Gebete gegen die Türken, den Teufel und die Pest nicht.

Luther wollte das Beten nicht abschaffen, im Gegenteil: Er war selbst ein eifrig Betender. Ziel des Reformators war es, die Gebetsinhalte auf seine Theologie, einer allein durch den Glauben und durch Gott gewährten Erlösung, zu lenken. Gebetsanliegen sollten nicht mehr durch Heilige vermittelt werden, vielmehr ging es ihm um eine unmittelbare Beziehung des Betenden zu Gott. Lyndal Roper betont in ihrer aktuellen Luther-Biographie, dass Gebete für Luther sehr wichtig blieben. Aus einer kleinen Schrift Luthers zur rechten Gebetshaltung von 1534 für einen befreundeten Bürger wissen wir, dass er selbst kniend oder stehend betete, seine gefalteten Hände und die geöffneten Augen gen Himmel richtete (Roper 2016, S. 147; Koch 2001, S. 109–117). Ein routiniertes Sprechen von Gebetstexten, Luther nannte das „Nachplappern“, lehnte er zugunsten einer konzentrierten, durch die Körperhaltung unterstützten, subjektiven Anrufung Gottes ab, wie es auch auf dem Frontispiz von Reuchels Gebetbuch dargestellt ist.

Ulrike Gleixner

Literatur:

Bepler 2001; Beyer 2007; Koch 2001.