Luther, der Narr

Von dem großen Lutherischen Narren

Soll der gestürzte, halb liegende Narr Martin Luther sein? Das zumindest suggeriert der Bildtitel, wenn er von dem „grossen Lutherischen Narren“ spricht. Abgesehen von der Leibesfülle weist die Figur aber keine Ähnlichkeit mit dem Wittenberger Reformator auf. Dieser wurde durch die ab 1520 kontinuierlich praktizierten Bildabnahmen seiner Person immerhin ikonisch und wiedererkennbar, nachdem er spätestens durch seinen Auftritt auf dem Reichstag in Worms 1521 allgemeine Bekanntheit erlangt hatte (Kat. Braunschweig 1996, S. 7 ff.; Luther 2016, S. 89). Um wen oder was handelt es sich dann? Und wer verbirgt sich hinter der Figur mit dem Katzenkopf, die auf dem Narren kniet und mit Hilfe eines Tuches kleine Narren aus dem geöffneten Mund des Ungetüms herauswürgt? Das Schriftband im Bild bietet auch keinen Aufschluss:

Interdum simulare stultitiam prudentia summa. – Bisweilen ist es ein Zeichen von größter Klugheit, Torheit vorzutäuschen.

Es wäre schön, aber zu einfach und auch wenig reizvoll, wenn ein mit Wort und Text eng verknüpftes Bild genau das zeigte, was der Titel oder verbale Beigaben annoncieren. Jedoch bestehen vielfältige Bezüge zwischen der Darstellung und den Schriftzusätzen.

Der expressive Holzschnitt prangt als Titelbild auf der 1522 in der Straßburger Offizin Grüninger gedruckten Flugschrift Von dem grossen Lutherischen Narren wie in doctor Murner beschworen hat. [et]c. Verfasser ist der aus dem Elsass stammende Franziskanerpater Thomas Murner (1475–1537), der zu den entschiedenen Gegnern Luthers und der Reformation gehörte. Sein satirisches Versepos hat einen Umfang von 4795 Verszeilen, ist in einem volkstümlichen Idiom verfasst und in vierhebigen Jamben und Paarreimstruktur komponiert. Es enthält monologische sowie dialogische Passagen zwischen Murner und Luther, wobei letzterer aber nicht identisch ist mit dem nach ihm benannten Narren. Darüber hinaus kommen Elemente des Fastnachtsspiels, des Pamphlets und der Allegorie zum Einsatz. Die intensive Bildhaftigkeit des Textes komplementieren 52 Holzschnitte. Sie stammen aus der Werkstatt eines unbekannten Meisters.

Eingeleitet wird das Werk durch einen mehrseitigen Prolog, in dem sich Murner für seine satirische Schreibart rechtfertigt. Anders als gewollt habe er zum „Narrenkolben“ gegriffen, weil ihn seine Feinde wiederholt in die Rolle des „Murnarren“ gedrängt hätten, wie sie ihn mit eponymischem Schalk in vielen Flugschriften tatsächlich schimpften. Im die Satire beschließenden Kolophon beteuert der Drucker Johannes Grüninger, dass er das Werk „niemans zuo lieb noch zuo leid“ gedruckt habe, sondern er sich „truckens […] erneren“ müsse (Murner 2014, S. 318). Den Hauptteil strukturieren im Wesentlichen vier zusammengehörige Abschnitte. Zunächst erfolgen zwei Beschwörungsszenarien sowohl der lutherischen Erznarren wie des großen lutherischen Narren selbst. In ihnen wiederholt Murner ohne Scheu vor Redundanz, dass er durch mannigfaltige Narrenschriften veranlasst wurde, zurückzuschlagen, und zwar auf närrische Art. Er bittet inständig darum, ihm seine Grobheiten nachzusehen. Sodann wird der große Narr auf einem Schlittenkarren auf die Bühne des Geschehens gefahren. Mittlerweile ist klar, dass es sich bei ihm nicht um Luther persönlich handelt, sondern um die durch ihn personifizierte Reformationsbewegung. Entsprechend verhält es sich mit der Bande der kleinen Narren, die allesamt als Helfer der lutherischen Sache erkennbar werden und vom unerschrockenen Beschwörer durch einen exorzistischen Akt aus allen Körperteilen des großen Narren herausgelockt und ‑gepresst werden. Bei dieser Prozedur treten fast ohne Herbeirufen auch die „15 Bundesgenossen“ hervor. Mit ihnen wird der Autor der sozialutopischen Schrift Fünfzehn Bundsgenossen (1521), Johann Eberlin von Günzburg (1470–1533), ein ehemaliger Franziskanerbruder und gewandelter Anhänger der Reformation, parodiert. Seine 15 Streiter sind zentraler Bestandteil des lutherischen Heeres, das den Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeiführt. Des Weiteren treten viele andere Angehörige der lutherischen ‚Kampfmannschaft‘ auf, darunter die Figuren des Studenten und des „Karsthans“ aus dem gleichnamigen Reformationsdialog (1521). Ebenso wird mit dem Motiv des Bundschuhs auf die frühen Bauernaufstände angespielt. Nachdem sich Murner von Luther scheinbar für den neuen Glauben gewinnen lässt und als Gegenleistung dessen Tochter zur Braut erhält, muss er in der Hochzeitsnacht entsetzt feststellen, dass ihr Kopf ganz verschorft ist, er mit ihr also einen schlechten Tausch gemacht hat. Sogleich jagt er sie aus der Kammer. Luther segnet daraufhin das Zeitliche und wird aufgrund seiner Verweigerung der Sterbesakramente im Abort ‚entsorgt‘. Schließlich stirbt auch der große Narr und wird ehrenvoll bestattet. Der Epilog berichtet, wie Murner, zum Testamentsvollstrecker berufen, nur eine Narrenkappe zu verteilen hat, die seiner (selbstironischen) Meinung nach ihm selbst am meisten zustehe, da er mit dem großen Narren am intimsten vertraut gewesen sei (Murner 2014, S. 318; Meid 2013, S. 111–112).

Will man das Werk pointiert charakterisieren, lässt sich sagen: Es handelt sich um eine satirische und polemische antireformatorische Kampf- und Propagandadichtung, die kurzweilige Unterhaltung garantiert. Sie will beschwören und agitieren und ihre Gegner lächerlich machen. Zum Teil rutscht die Darstellung mit den burlesken Zügen in sprach- und respektmanierliche Tiefen. Doch die Bezugnahme auf tagesaktuelle Fragen, die Komik und Überspanntheit der lebendig gezeichneten Figuren, die Collage verschiedener Geschehen und die fürwitzigen, auch bösartigen Zuschreibungen verleihen dem Werk Würze.

Nachdem Murner ab Herbst 1520 in mehreren Streitschriften und anfangs in gemäßigtem Ton seine Stimme gegen die Reformation und Martin Luther erhoben hatte, wurde er von den protestantischen Gegnern und Luther selbst in immer drastischeren Schriften angegriffen. Dabei hatte Murner anfangs auch die Missstände der Kirche angeprangert, hatte sich wie Luther dafür ausgesprochen, sie durch Reformen zu beheben. Aber weder stellte er die Einheit des Glaubens in Frage, noch die Institution der Kirche oder des Papstes. Den Umsturz der bestehenden Ordnung und ihrer Machtverhältnisse galt es ihm um jeden Preis zu verhindern.

Im Titelholzschnitt personifiziert das Narrenungetüm die lutherische Lehre. Den Katzenkopf hat sich Murner in einem Akt feiner Selbstironie eigenmächtig aufgesetzt. So nimmt er die ihm von den Gegnern aufgezwungene Narrenrolle selbstpersiflierend an. Er schlägt wider seine Feinde aus dem protestantischen Lager zurück, die seinen Namen zu oft in den Schmutz gezogen haben.

Martin Luther, der Namensgeber für das von Murner identifizierte Übel, war vieles: willensstarker Augustinermönch, frommer und forscher Kirchendiener, womöglich auch sanfter Familienvater und liebender Ehemann, mit Sicherheit erfahrener Akademiker und gelehrter Professor und natürlich der streitbare Reformator. Rhetorisch und argumentativ war Luther nicht zimperlich. Er teilte gegen andere aus, wenn diese sich als Feinde und Widersacher erwiesen. Er war ein Meister der Rede, der gesprochenen wie geschriebenen, sein Wortschatz war groß und abwechslungsreich, sein Stil anschaulich und lebendig, seine Bibelübersetzung verständlich und innovativ zugleich. Nicht von ungefähr forderte er, man solle dem gemeinen Volk „auf das Maul schauen, wie sie reden“, wenn ein fremdsprachiger Text angemessen verdeutscht werden müsse (Luther 2016, S. 95). Der Reformator konnte witzig sein, aber auch grob, je nachdem wie Anlass, Text und Kontext es erforderte, und je nachdem wie die Stimmung war, in der er sich befand. Darüber hinaus hat Luther früh ein Bewusstsein für die massentauglichen und warenökonomischen Implikationen des jungen Druckmediums entwickelt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Seine Flugschrift An den christlichen Adel deutscher Nation, die mit einer ersten Auflage von 4000 Exemplaren am 18. August 1520 erschien, war nach fünf Tagen vergriffen. Sie erlebte 14 hochdeutsche sowie eine niederdeutsche, insgesamt also 15 Auflagen. Luther nutzte das neue Medium im Wissen um seine besonderen Möglichkeiten, er war ein Medienjongleur ersten Ranges. Zugleich fühlte er sich vom neuen Medium abhängig, denn er merkte, wie sehr er auf die Mitarbeit der Drucker-Verleger angewiesen war, wenn es galt, seine Schriften schnell zu verbreiten. Zum Teil entwickelte er Vorbehalte, zwar nicht gegen die Buchdruckkunst als solche, dafür gegen die Buchdrucker. Ihn, dem es stets darum ging, seine Grundsätze wortgenau zu vermitteln, ärgerten und ermüdeten die Schludrigkeiten und Eigenmächtigkeiten der Drucker (Wenzel 2001, S. 205 ff.). ‚Anäugende‘ Bilder wie bei Murner finden sich eher selten in seinen Werken.

Nicht weniger rhetorisch versiert und eines nuancenreichen Sprachgebrauchs mächtig, ja kongenial war sein Gegenspieler Thomas Murner. Ein Vielkönner war auch er, geistreich und wortgewandt, er hatte Theologie und Jurisprudenz studiert, war Poeta laureatus, Didaktiker und Übersetzer, Flugschriftenverfasser, Kritiker, Satiriker und Polemiker und hatte sich sogar als Illustrator betätigt. Recht besehen war Murner ein „toller Hecht“, wie ihn Thomas Neukirchen mit Bezug auf frühneuhochdeutsches Sprechen charakterisiert (Murner 2014, S. 357). Und was den Einsatz grobianischer Invektiven in der Rede anbetrifft, stand der Elsässer dem Wittenberger in nichts nach. Es sei darauf hingewiesen, dass die Verhöhnungsrhetorik und Eskalation des Disputs nicht von Murner ausging, sondern von Luther, den die katholischen Gegner nicht von ungefähr „Sohn der Bosheit“ perhorreszierten (Piltz 1983, S. 5).

Abschließend noch einmal zur graphischen Gestaltung des Titelholzschnitts: Das Aufeinandertreffen des katzenköpfigen ‚Murnarr‘ (Murner als Vertreter und Streiter für die alte Kirche) und des deformierten ‚lutherischen Narren‘ (die reformierte Kirche) wird nicht anzüglich, dafür als närrische Posse inszeniert. Es finden sich andere Beispiele, die den Konflikt der beiden Parteien vulgärer ins Bild setzen: etwa die Beerdigung Luthers im „scheißhus“ (Murner 2014, S. 294f.) (Abb. 1).

Abb. 1
Abb. 1 Thomas Murner: Von dem grossen Lutherischen Narren wie in doctor Murner beschworen hat. [et]c., [Straßburg: Grüninger] 1522, Bl. diii v (altkoloriert). HAB: A: 308 Theol. (4)

Die Bildgestalter des 16. Jahrhunderts, insbesondere in der hitzigen Phase des Reformations- und Bauernaufruhrs nahmen keine Rücksicht auf empfindsame Gemüter. Die graphische Repräsentation der emotional aufgeladenen Auseinandersetzung um den rechten Glauben und die überkommenen Obrigkeiten eskalierte wie die theologische Kontroverse selbst. Entsprechend der vielfach entgleisenden verbalen Polemik führten auch die Bilder oft den Schlag unter die Gürtellinie, griffen nur zu gern in die Fäkaliengrube – um den Gegner zu verspotten, zu verunglimpfen und bloßzustellen. Doch zeichnen sich revolutionäre Umbrüche eben nicht durch feine Formen aus. Die Frage, wer wem seinen Willen aufzwingt, wird nicht durch Anstand, Respekt und die Einhaltung gesitteter Spielregeln entschieden. Das Grobianische ist konstitutiv für das Revolutionäre (Piltz 1983, S. 7).

Jörn Münkner

Literatur:

Kat. Braunschweig 1996; Kat. Karlsruhe 1987; Münch 2013; Piltz 1983.